Mutter Tugend ist die gute Seele in einem kleinen Örtchen. Selbstlos hilft sie als gutmütige Alte den Menschen, und besonders die Kinder lieben sie dafür. Doch eigenen Nachwuchs hat die alte Frau nie gehabt. So kommt sie eines Tages auf den egoistischen Wunsch, selbst gern ein Kind zu bekommen. Dies nimmt der Dämon Spott zum Anlass und pflanzt ihr mit einem höllischen Zauber seinen üblen Samen ein. Das sich daraus entwickelnde Kind wird Schande (engl. Shame), das geborene Böse. Von Mutter Tugends Zauberkräften eingesperrt, entwickelt sich das junge Mädchen und wird von allerhand Zauberwesen aufgezogen, bis es schließlich unter den Einfluss ihres Vaters Spott gerät und Rache schwört.
Shame: Ein Märchen für Erwachsene
Gute Hexen, Fabelwesen, böse Hexen, Dämonen und Ritter: das ist der Stoff, aus dem Märchen gemacht sind. Beim Comic Shame kommen die Attribute des Bösen in vollem Maße zur Geltung. Entstellte Wesen, hässliche Dämonen, Gewalt und Sex als magische Waffe werden hier geboten. Dabei spielt Nacktheit auch immer wieder eine zentrale Rolle, um einerseits Durchtriebenheit aber auch Unschuld darzustellen. Shame – Tochter des Bösen bildet also den Stoff für ein echtes Erwachsenenmärchen.
Der Kampf zwischen Gut und Böse ist der Grundpfeiler der dreiteiligen Comicreihe von Lovern Kindzierski und John Bolton, die beim Splitter-Verlag in einer großen Gesamtausgabe im edlen Hardcover erschienen ist. Durch die Shame-Trilogie hindurch schwingt das Pendel der Moral oder Unmoral hin und her. Dabei stellen sich Mutter Tugend und Tochter Schande, angeleitet von ihrem Vater Spott, immer wieder Fallen, um entweder Chaos oder Liebe über die Welt zu bringen. Am Ende bleibt nur noch die Hoffnung.
Kampf der Moral farbenfroh inszeniert
Die mythisch verzweigte Geschichte, die aus der Feder von Kindzierski stammt und von Bolton zeichnerisch präsentiert wird, entfaltet sich auf ca. 180 Seiten. Dreh- und Angelpunkt ist der quasi Mutter-Tochter-Konflikt von Tugend und Schande. Unterstützt wird Tugend zwar hier und dort auch mal von Merrit, einem recht plumpen Helden, aber es muss ganz klar gesagt werden: starke Frauen stehen hier im Fokus. Dabei bleibt so manches erotische Klischee nicht aus. Doch an den starken Bildern kann sich der Comic-Leser wahrhaftig berauschen. John Bolton hat mit seinen Pinselstrichen einfach Wunderbares geschaffen. Das düstere Böse und schillernde Gute kommen in fotorealistischen Aquarelltönen farbenfroh daher. Kindzierskis Märchen für Erwachsene wurde hier meisterhaft illustriert. Doch das ist kein Wunder, immerhin hat Bolton schon mit Größen wie Neil Gaiman oder Clive Barker zusammengearbeitet und ist in der Comicszene eine Legende.
Mit dem Comic Shame – Tochter des Bösen wird dem Leser nicht nur ein faszinierendes Märchen geboten, das auch mit moralischem Tiefgang zu entzücken weiß. Die Zeichnungen und Kolorierungen sind ein Schmaus für das Auge. Kindzierski und Bolton sind mit diesem Werk in Höchstform geraten und konnten ihre Stärken miteinander synergetisch verbinden. Ein gutes Beispiel für die Neunte Kunst, deren Bezeichnung dieser Comic jedenfalls wert ist.
Marc Zehmke
Bildquelle(n): Splitter-Verlag